COPE
Blackbox PMS
von Eva Tepest

»Am 16. Dezember 1980«, berichtet das britische People Magazine 19821, »beendete eine 36-jährige Engländerin namens Christine English eine Liebesbeziehung auf die schlüssigste Art und Weise: Sie überfuhr ihren Freund und tötete ihn. Im November des letzten Jahres bekannte sie sich des Totschlags schuldig, wurde aber aus der Haft entlassen. Ihr wurde lediglich für ein Jahr der Führerschein entzogen. Am Tag zuvor war Sandie Smith, 29, eine Kellnerin aus dem Osten Londons, wegen des Tragens eines Messers und der Drohung, einen Polizisten zu töten, auf Bewährung gesetzt worden, obwohl sie bereits auf Bewährung war, weil sie eine andere Kellnerin erstochen hatte. Der Grund für die Strafmilderung: Smith befand sich, wie auch English, im Griff einer biologischen Kraft, die sich ihrer Kontrolle entzog – ein durch prämenstruelle Spannungen ausgelöster Gewaltzwang.« Die Gerichte erklärten English und Smith für unzurechnungsfähig, ihre Handlungen und Entscheidungen für erratisch. Als Richterinnen und als Kritikerinnen wären sie komplett ungeeignet.

Seitdem ich 13 Jahre alt bin, ändert sich mein Welt- und Fremdbezug alle sieben bis zehn Tage radikal. Ich hatte Besuch von meiner britischen Austauschschülerin, die mit 80-prozentiger Sicherheit Lauren hieß. Jeden Tag fürchtete ich die morgendliche Begegnung mit ihr, jeden Abend wünschte ich, mich für immer verstecken und Bravo lesen zu können. Lauren hatte Brüste, sie schminkte sich und trug ein süßes Parfüm. »Is there any place I can smoke around here?«, fragte sie mich, die ich bisher erst zwei Mal versteckt im Wald eine R1 geraucht hatte. Ich wusste ebenso wenig, warum ich so tieftraurig und ängstlich war, wie ich die »Doktor Sommer«-Fragen zur Selbstbefriedigung verstand oder wieso Lauren und ich gleichaltrig und an anderen Enden des Geschlechterspektrums platziert waren. Und dann bekam ich zum ersten Mal meine Tage.

Fortan befand ich mich »im Griff einer biologischen Kraft«, die als »prämenstruelles Syndrom« (kurz: PMS) erstmals 1931 definiert worden war. Damals schrieb der Mediziner Robert T. Frank über eine überdurchschnittliche »prämenstruelle Anspannung«, Unruhe, Gereiztheit, das Gefühl, »aus der Haut zu fahren«, das eine große Gruppe Frauen berührte. Im selben Jahr erklärte die Psychoanalytikerin Karen Horney »prämenstruelle Stimmungsschwankungen« zur Folge eines verdrängten Kinderwunsches.2 Bis heute ist PMS ein Zustand, über den wir kaum etwas wissen. Auch mit 13 wusste ich nichts. Und doch wurde ich zum zyklischen, unzurechnungsfähigen Subjekt. Ich wurde zum Anti-Kritiker.

Die Kritik setzt Meinungsstärke voraus, ein Subjekt, das auf der Basis rationaler Kriterien sein Objekt – einen Text oder eine kulturelle Situation – bewertet. Der Kritiker ist das nicht-emotionale Subjekt, das männliche Subjekt, das nicht-menstruierende Subjekt. Der Kritiker ist ganz bestimmt nicht, was ich bin. In einem Rundfunkbeitrag von 19633 hat Marcel Reich-Ranicki den Kritiker (sic!) zu Rechtsanwalt und Staatsanwalt erklärt. »Eine Kritik ist die Summe beider

Plädoyers«, erklärte der Literaturpapst – eine Voraussetzung dafür sei die kritische Unbefangenheit.

Zyklische Crushes

Auf meine Menstruation folgt, seit ich 13 bin, eine Woche der Sorglosigkeit, in der ich starke ästhetische Begierden entwickele. In dieser Woche bin ich immer am Rande eines Zustands manischer Sensitivität, in dem alles mit allem verbunden und das gute Leben so nah scheint, dass ich kaum folgen kann. Zu meinen thematischen Crushes zählen: Basketball und Prints auf Pullovern: Daddys, Dykes, and Dogs. Assoziativ verbinde ich Proust, Moose (die grünen) und post-feministische Utopien mit den Hemden, deren Farben so sehr die Augen meiner Freundinnen unterstreichen, als hätten sie sich abgesprochen. Dann nehme ich mein iPhone in die Hand und schreibe. Am Anfang meines Denkens steht immer die emotionale Regung über eine Sinneswahrnehmung, steht oft Begeisterung: eine Empfängnisbereitschaft und rezeptive Formbarkeit, die beim Kritiker nicht vorgesehen ist, der »alles Schwache, Fragwürdige und Schlechte im Gegenstand der Betrachtung suchen« muss. Kein Wunder, dass Reich-Ranicki viel mehr Verrisse als Lobreden schrieb.

Decision fatigue und Kanon

So sehr mich Texte berühren, so schwer fällt es mir, sie zu beurteilen. Wie auch, wenn sich meine Realität mit jeder Woche gänzlich anders anfühlt, so als ob ein kognitiver Turn wie das Schütteln des Handybildschirms etwas, anything, von richtig gut zu okay und unerträglich neu justiert – nicht zuletzt diesen Text?

In meiner zweiten Zyklushälfte wird mir jede Entscheidung zunehmend zu viel, befällt mich die decision fatigue schon nach dem Aufstehen. Auch das ist nicht völlig losgelöst vom Rest meines Temperaments, das da häufig over-thinking und mehr als nur gelegentlich anxious ist. Ich sehnte mich früh nach #Autorität, ich wollte den #Kanon. Von meinem Konfirmationsgeld kaufte ich die Fünfzig größten Romane des 20. Jahrhunderts – laut Süddeutscher Zeitung. Ich zwang mich, alle zu Ende zu lesen, obwohl ich sie nicht alle mochte oder verstand. Ich las Tolstoi und Dostojewski, weil ich in ein russisches Mädchen verliebt war, ich las Hesse, um die Mütter meiner Freundinnen zu beeindrucken.
Der Kanon gilt als letztes Wort des Literaturgerichts, das abschließende Urteil des zeitlosen guten Geschmacks. Was das genau bedeutet, entscheiden reiche weiße Männer. Deren Gag ist, ihre Vorlieben – Texte anderer reicher weißer Männer – als unverrückbar und auf ewig überlegen zu präsentieren: Von den »fünfzig größten Romanen« stammen vier von Autorinnen (inklusive einer Lesbe in the closet), alle sind weiß.

So mit 16 hatte ich genug ZEIT-Feuilleton aufgeschnappt, um eine Meinung zu vertreten, zum Beispiel, dass Juli Zehs Roman Spieltrieb das Buch sei, um die Schule, das Leben und die oberflächliche westdeutsche Warenwelt zu verstehen. Der entscheidende habituelle Kniff des Kritikers scheint zu sein, um jeden Preis standfest zu bleiben. »Wer nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen«, zitierte Reich-Ranicki Walter Benjamin. Seine Zweifel solle man für sich behalten.

Blackbox PMS

Laut einer Studie der psychiatrischen Fakultät der Taibah-Universität, Saudi-Arabien, ist der Anteil der Literaturstudierenden, die unter schwerem und generellem PMS leiden, weitaus größer als unter Medizinstudierenden.4 Ob Menschen im Griff zyklischer Schwankungen Literaturkritik studieren, um im Anschluss eine feste Meinung zu behaupten?

Während meines PMS versuche ich, mich mit meiner Freundin zu streiten, was nahezu unmöglich ist, weil sie extrem friedfertig und nett ist, so nett, dass sie zu den Top Five netten Menschen ever in meinem Leben gehört. Und doch: Es ist, als ob mir jemand einmal im Monat eine Spritze instant sadness versetzt und ich alles Gute an der Wurzel packen und mit Stumpf und Stiel entfernen muss. Für fünf Tage. Dann bekomme ich meine Tage.

Ich kann diesen Zustand, wenn ich drinstecke, nicht reflektieren und mir das Gefühl nicht zurückholen, wenn ich nicht mehr drinstecke. Mein Framing ist das eines »Narrativs für eine Erfahrung, die […] gänzlich narrativlos ist«5. PMS erscheint als nonverbale Blackbox.

Das Problem mit der Futurität

Es gibt keine Sprache für PMS, für hormonelle Stimmungen und, at its most basic, keine für kulturell weiblich markierte Gefühle – abseits von »hysterisch« oder like one of the boys, »überempfindlich« oder tough. Doch was, wenn PMS, der hormonelle Zyklus, gar keine Blackbox ist? Was, wenn ich, wenn wir uns als Kultur bloß entschieden haben, keine Worte dafür zu finden?

Gesellschaftlich hängen wir dem linearen Fortschritt an. Da werden die Verdikte laut Reich-Ranicki letztlich nicht von den Kritikern gefällt, »sondern später einmal von den hohen Richtern, den Literaturhistorikern«. Der Wohlstand schreitet laut kapitalistischem Credo ebenso stramm voran wie die Kritik. Auch ich kenne den Wunsch, Lebensgefühle hinter mir zu lassen. Der Gedanke ans Neue befriedigt mich auf eine selige Art und Weise. A new document offers a new horizon. Soweit hat mich der Kapitalismus im Griff. #Zyklische Denk- und Welterfahrungssprozesse sowie das Vergessen (Wieso bin ich so niedergeschlagen?), mehrfach dieselbe Erkenntnis zu haben (Und dann bekomme ich meine Tage.) sind hingegen nicht erwünscht.

»In favour of porousness and multiplicity«

Eine Alternative bietet die Ausweitung des geradlinigen Blicks – »die Aufhebung patriarchalischer Identitätsauffassungen zugunsten von Durchlässigkeit und Vielfältigkeit«6. Die Vorläufigkeit des Urteils zu exponieren, Ambivalenz auszuhalten, argumentiert Olivia Sudjic, die sich hier auf autofiktionale Texte bezieht, würde unser kulturelles Vokabular entscheidend erweitern, um eine »Vielfalt an Stimmen«. Und uns allen die Erleichterung verschaffen, mehr sein zu dürfen, einem Kohäsionsanspruch zu entkommen, der das Subjekt aalglatt macht. Dagegen spreche ich mich ganz egoistisch aus für die Freiheit, »zu interpretieren, zu wandern, perverse (und falsche) Vorstellungen zu haben«7. Aber wie könnte eine andere Kritik, wie eine andere Literatur aussehen?

Ich mache mich auf die Suche und lese Dodgy Days von Eileen Myles –

»Keep me away from/ my self-made drugs/ Or drown me in them//

I am like the ocean/ that is sexual/ I come in waves libido hi libido bye«8

– und die PMS-Flash-Fiction von Anne Boyer, in der eine Frau durchdreht, sich von ihrer Freundin trennt, einen Helikopterrundflug über Iowa City macht und ihre Tage bekommt, oder eine Person immer wieder ihre Periode vergisst und sich wundert, warum sich alles so schrecklich anfühlt, und dann ihre Tage bekommt. Ich lese auch Eve K. Segdwick, Between Bleedings: The Incoherence of Jane Austen und Happy Art, Anxious Art: Writing the History of Menstruation.

Natürlich gibt es diese Literatur nicht.


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1 https://people.com/archive/in-england-two-killers-go-free-on-grounds-that-they-were-victims-of-premenstrual-tension-vol-17-no-13/
2 Horney, K. (1931), »Die prämenstruellen Verstimmungen«. Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, 5(5-6), 161-167.
3 Reich-Ranicki, M. (1992), Selbstkritik des »Blechtrommel«-Kritikers. Günter Grass: Aufsätze. Ammann.
4 Abeer A. (2019), »Premenstrual Syndrome- Prevalence, Severity and Effect on Academic Performance: A Comparative Study Between Students of Medicine and Literature«. J Womens Health Gyn 6: 1-18.
5 Diski, J. (2014), »Blackness ever blackening: My lifetime of depression.« Mosaic.
6 Sudjic, O. (2018). Exposure. Peninsula Press.
7 Koestenbaum, W. (2007). Hotel Theory: 8 Dossiers; Hotel Women: 18 Chapters. Soft Skull Press, 62.
8 »Libido hi, libido bye«: T.V., im Gespräch, 2020



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Eva Tepest

ist Autorin und Journalistin. Über Literatur und Medien, Gender und Politik schreibt sie regelmäßig für die taz, den tagesspiegel und das missy magazine. Sie arbeitet im Bundestag.

Mit Lynn Takeo Musiol zusammen schreibt sie Prosa, Essays und Kritik u. a. für glitterschaubühnemetamorphosen und den theatertreffen-blog der Berliner Festspiele. Eva und Lynn haben am auftakt festival für szenische texte 2020 teilgenommen und waren Finalist*innen des Open Mike 2020. Sie schreiben an einem Roman, in dem auch ein PMS-Pavillon vorkommt.

www.evatepest.net
@EvaTepest



Eva Tepest

ist Autorin und Journalistin. Über Literatur und Medien, Gender und Politik schreibt sie regelmäßig für die taz, den tagesspiegel und das missy magazine. Sie arbeitet im Bundestag.

Mit Lynn Takeo Musiol zusammen schreibt sie Prosa, Essays und Kritik u. a. für glitterschaubühnemetamorphosen und den theatertreffen-blog der Berliner Festspiele. Eva und Lynn haben am auftakt festival für szenische texte 2020 teilgenommen und waren Finalist*innen des Open Mike 2020. Sie schreiben an einem Roman, in dem auch ein PMS-Pavillon vorkommt.

www.evatepest.net
@EvaTepest
















Buchcover von: Eileen Myles, Dodgy Days












Buchcover von: Anne Boyer, PMS Flash Fiction












Buchcover von: Eve Sedgwick, Between Bleedings