COPE
Warum ich nicht schreibe
von Hila Latifi

Deutsch ist nicht meine sogenannte Muttersprache. Auch nicht meine erste, zweite oder dritte Sprache.
Ich bin mit zehn Jahren nach Deutschland gekommen und habe zum ersten Mal Deutsch gelernt. Aufgewachsen bin ich mit Dari. Als ich sechs Jahre alt war, bin ich mit meiner Familie nach Russland geflohen. Kurze Zeit später habe ich fließend Russisch gesprochen. Mit sechs Jahren braucht man zwar kein sehr großes Vokabular. Weil ich aber schnell die Übersetzerin meiner neunköpfigen Familie wurde, habe ich mehr gesprochen, als mir manchmal lieb war. Auf der achtmonatigen Flucht hat meine Mutter – wie auch immer sie das geschafft hat – mir hier und da Englischunterricht organisiert. Von da an konnte ich einige unserer Familienangelegenheiten auf Englisch klären. Das heißt nicht, dass in den elf Ländern, in denen wir waren, auch jede*r mein Englisch verstanden hat.

Dann waren wir in Deutschland. Es ging von vorne los. Leute haben mich nicht verstanden, und ich habe sie nicht verstanden. Trotzdem saß ich mit drei bis fünf Erwachsenen in einem Raum.
Als wäre das einfach gewesen.
Unter dem Erwartungsdruck meiner Eltern, dem Situationsdruck, existenzielle Gespräche zu führen, der Angst, mit nur einer falschen Antwort meiner Familie zu schaden, und der Tatsache, als Kind in einer Behörde gegenüber einem Beamten zu sitzen und zuzugeben, etwas nicht komplett zu verstehen.
Wenn dann aber einfach alles wiederholt wurde, anstatt eine Dolmetscherin dazuzuholen, blieb mir manchmal nichts anderes übrig, als zu lächeln, zu nicken und zu hoffen, keine gravierenden Schäden anzurichten. Es wurde mir nicht erlaubt, nicht zu verstehen.

Was ich sagen will, ist, dass Sprache kein einfaches Thema für mich war.
Sprache hatte für mich mit Angst und Frustration zu tun.
Ich war wütend darüber, Deutsch lernen zu müssen. Ich war wütend, dass wir auch Russland verlassen mussten, und am meisten war ich wütend darüber, dass wir nicht in Afghanistan bleiben konnten. Dem Land, in dem ich einfach meine eigene Sprache sprechen konnte.
Viel Zeit zum Wütendsein hatte ich allerdings nicht.

Ich war diejenige, die am schnellsten Sprachen gelernt hat, also musste ich schnell lernen. Von da an bewegte ich mich zwischen »Wow, du sprichst aber gut Deutsch« und ständigem Unterbrochen- und Verbessertwerden. Früher hat mich das mehr irritiert.
Mittlerweile weiß ich, dass es nichts mit meiner Sprache zu tun haben muss, wenn ich unterbrochen und korrigiert werde.

Die einen fühlen sich dazu berufen, in ihrer Freizeit Deutschlehrer*innen zu sein, die einer*m nur dabei helfen wollen, die deutsche Sprache besser zu sprechen. Deswegen korrigieren sie jeden Artikel und verbessern jede Formulierung. Andere können einen so grammatikalisch falschen Satz einfach nicht stehen lassen. Das ist die deutsche Grammatikpolizei.

Und dann gibt es die, die meinen, ihr Gesagtes wäre aufgrund der grammatikalischen Korrektheit immer relevanter, und die mich und meine Meinung nicht mehr ernst nehmen, sobald sie heraushören, dass ich nicht fehlerfrei spreche.

Einen entspannten Umgang damit habe ich noch nicht gefunden.
Meistens bin ich genervt und wütend und manchmal sogar verletzt. Hin und wieder ertappe ich mich dabei, wie ich mitlache mit Personen, die meine Aussprache so »lustig« finden. Ich habe nicht immer die Energie für eine Konfrontation mit meinem Gegenüber und muss dann ein schlechtes Gewissen in Kauf nehmen, wenn ich mich nicht ausreichend für mich und meine Meinung eingesetzt habe. Weil ich die Personen nicht darauf hingewiesen habe, dass es nicht in Ordnung ist, den Inhalt des Gesagten nicht mindestens genauso zu würdigen wie die lustige Aussprache. Das Gesagte geht in solchen Situationen schnell unter.

Ich habe früher davon geträumt, superkrass zu sprechen, krasse Texte und vielleicht Poesie zu schreiben.
Ich spreche fünf Sprachen. Ohne mich in nur einer davon fallen lassen zu können und einfach draufloszusprechen. Ohne Angst, einen Fehler zu machen.
Ich habe mich von diesem Traum distanziert. Die Unsicherheit und die Angst vor der Sprache haben mich still und heimlich andere Wege gehen lassen.

Ich habe lange nicht gewusst, wie sehr ich versuche, der Sprache aus dem Weg zu gehen. Und wie viel Einfluss das auf viele Entscheidungen meines Lebens genommen hat. Studienwahl, Jobentscheidungen und damit die Entscheidungen über die Gespräche und damit die Gesprächspartner*innen, denen ich mich stellen muss.

Erst seit ich beruflich jeden Tag Personen begleite, die nicht Deutsch-Muttersprachler*innen sind, kann ich beobachten, wie sie aus Angst versuchen, der deutschen Sprache möglichst nicht zu nah zu kommen. Weil ich sehe, wie sehr sie sich zurücknehmen und wie wenig sie für sich und ihre Belange einstehen können, wenn Sprache benötigt wird, kann ich behaupten, verstanden zu haben, wie wichtig es ist, sich nicht von der Angst übernehmen zu lassen und der Sprachlosigkeit zum Opfer zu fallen.

Ich schreibe nicht, weil es mir unendlich viel abverlangt, es zu tun. Ich schreibe diesen Text, weil es wichtig für mich ist, das mit meinen eigenen Worten zu sagen. Ich schreibe diesen Text, weil es wichtig für mich und für andere ist, dass auch ich schreibe.
Trotz meiner Sprachstruggles anzukommen und vielleicht sogar verstanden zu werden.


*
Hila Latifi

ist eine in Kabul geborene intersektionale Feministin, Aktivistin und Podcasterin, die sich auf unterschiedlichste Art für Diversität, Antirassismus und die Sichtbarkeit von migrantischen Stimmen einsetzt und für eine gleichberechtigte Teilhabe und Zugang zu gesellschaftlich relevanten Ressourcen wie Bildung, Arbeit und Kulturellem. Ihr opium podcast schreibt sich Community Building und Empowerment auf die Fahne und bietet eine Plattform für communityinterne Themen, Vernetzung und Austausch. Mit Fokus auf die afghanischen Erfahrungen zeigt sie die Community in ihrer ganzen Vielfalt. Mit ihren Gästen thematisiert sie Kultur und Tradition, aber auch Tabus und Konflikte.

In ihrer Arbeit als Systemische Beraterin und Kunsttherapeutin arbeitet sie insbesondere mit afghanischen Frauen und Familien. Sie gibt außerdem Kreativ- und Empowerment-Workshops.

@opiumpodcast



Hila Latifi

ist eine in Kabul geborene intersektionale Feministin, Aktivistin und Podcasterin, die sich auf unterschiedlichste Art für Diversität, Antirassismus und die Sichtbarkeit von migrantischen Stimmen einsetzt und für eine gleichberechtigte Teilhabe und Zugang zu gesellschaftlich relevanten Ressourcen wie Bildung, Arbeit und Kulturellem. Ihr opium podcast schreibt sich Community Building und Empowerment auf die Fahne und bietet eine Plattform für communityinterne Themen, Vernetzung und Austausch. Mit Fokus auf die afghanischen Erfahrungen zeigt sie die Community in ihrer ganzen Vielfalt. Mit ihren Gästen thematisiert sie Kultur und Tradition, aber auch Tabus und Konflikte.

In ihrer Arbeit als Systemische Beraterin und Kunsttherapeutin arbeitet sie insbesondere mit afghanischen Frauen und Familien. Sie gibt außerdem Kreativ- und Empowerment-Workshops.

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