COPE
Der letzte Stand
von Juan S. Guse

Seit Anfang des Jahres habe ich einen wiederkehrenden Traum, in dem ich ein extrem umfangreiches MS-Word-2010-Dokument bearbeite. Ich sitze allerdings nicht an einem Schreibtisch oder auf dem Sofa. Es gibt auch keinen Raum, keinen Computer, keinen Kontext, keinen Körper. Da ist nichts außer diesem Word-Dokument, das ich unmittelbar sehe – als wären meine Augen eingeschmolzen und von oben in den Bildschirm gegossen worden.

Ob ich den Text geschrieben habe, weiß ich nicht, es ist irgendwie aber auch egal. In jedem Fall bin ich bestens mit ihm vertraut, schiebe Sätze rum, tausche Wörter aus, kürze und ergänze. Diese Eingriffe sind berechtigt, oft notwendig. Alles ist dabei merkwürdig gehetzt, als wäre die Zeit knapp. Diese oft minutiöse Arbeit mache ich eine gefühlte Ewigkeit. Trotzdem weiß ich nicht, worum es in diesem Ding eigentlich geht. Ich lese die Wörter und Passagen, verändere eigenständig Sinnabschnitte, vergesse aber alles sofort wieder.

Nach ein paar Wochen beginnt sich über diese Textbearbeitung eine zweite Traumschicht zu legen. Hier begebe ich mich – mittlerweile wissend, dass es ein Traum ist – auf die Suche danach, wovon dieses Dokument handelt. Allerdings redigiere ich währenddessen ganz normal weiter. Das heißt: Ich sehe »mich« wie gewohnt im Text rumhantieren, »weiß« aber, dass ich gerade im Hintergrund etwas Verborgenem auf der Spur bin. Diese Suche nach einer Erklärung bekommt bald House-of-Leaves1-mäßige Vibes, als würde man immer tiefer in dunkle Räume vorstoßen, hinter denen nur noch mehr dunkle Räume liegen. Ungefähr so, nur komplett ohne visuelle Eindrücke.

Stand bei Abgabe dieses Textes ist: Ich weiß nach wie vor nicht, worum es in diesem Word-Dokument geht. Das letzte Mal habe ich am vor sechs Tagen davon geträumt. Mit jedem Mal scheine ich der Antwort zwar ein Stück näher zu kommen, aber im Grunde habe ich mittlerweile Angst davor, auf sie zu stoßen, denn ich befürchte, dass sich mein Gehirn keine gute Pointe ausdenken, ihm kein originelles Ende einfallen und die monatelange Spannung im Nichts versanden wird. Denn natürlich werde ich in den Räumen nur finden, was ich in sie hineingesetzt habe.

Im Grunde kenne ich diesen Gedanken bereits. Derzeit bin ich in Elternzeit, habe also wenig Zeit für das nächste Buch. Für Recherche reicht es, aber nicht für mehr. Irgendwann jedoch, dieses Jahr wahrscheinlich, wird der Moment kommen, an dem ich mich wieder für mehrere Stunden an den Rechner setzen und all meine angestauten Notizen und Überlegungen durchgehen werde, die in meinem Hirn bisher vielversprechend klangen. Seit bald Jahren denke ich über das Projekt nach, seine Form. Aber vielleicht schlag ich an diesem Tag den Lenovo auf und stelle fest: Da ist nichts. Ich weiß nicht, wie das zusammenkommen soll. Und dann spiele ich doch wieder Dwarf Fortress.

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1 Orginialtitel: Das Haus. Postmoderner Roman des US-Schriftstellers Mark Z. Danielewski aus dem Jahr 2000, der mit unterschiedlichen Schrifttypen, nicht linearer Erzählweise, Layout-Spielereien und in die Irre führenden Fußnoten hantiert


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Juan S. Guse

ist Autor und Soziologe. Seine Bücher erscheinen im S. Fischer Verlag, zuletzt miami punk (2019).



Juan S. Guse

ist Autor und Soziologe. Seine Bücher erscheinen im S. Fischer Verlag, zuletzt miami punk (2019).










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Peter Härtling erläuterte 1994 im Marbacher Magazin: ›Die Prosa eines mit dem PC arbeitenden Poeten zeichnet sich für Kenner wiederum dadurch aus, dass sie unmerklich die Furcht vor dem Absturz prägt‹.

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