COPE
Worum es geht
von Juliane Dobelmann

Es ist halb fünf. In einer halben Stunde kommt Matthias von seiner Schicht nach Hause; er selbst wird dann neun Stunden lang an seinem Schreibtisch gesessen haben. Minus zweimal Kaffeekochen und -trinken, minus drei Pinkelpausen, minus ein 25-minütiges Telefonat mit seiner Mutter. Er lauscht jetzt auf den Schlüssel im Schloss, lauert fast, wartet auf Matthias’ melodisches »Hallo!« von der Eingangstür, bevor er im Bad verschwindet. Dort wird Matthias zwanzig Minuten lang heiß duschen, »um sich das Leid aus den Poren zu waschen«, so rechtfertigt er dieses Ritual. Dann wird Matthias zu ihm an den Schreibtisch kommen, die Haare noch so nass, dass sie tropfen, ihm leicht über die Schulter streichen und sich die Frage »Wie läuft’s?« verkneifen. Er wird in die Küche verschwinden, um das Abendessen vorzubereiten. So wie auch gestern, letzte Woche, letzten Monat. Er rechnet nach, und: ja, tatsächlich, wie auch das gesamte letzte Jahr. Seit etwas mehr als 14 Monaten verkneift Matthias sich seine Frage und geht kochen, sitzt er selbst an fünf bis sechs Tagen die Woche – abhängig von Matthias’ Dienstplan – an seinem Schreibtisch und arbeitet an dem Text. Drei Seiten, auf die er seine Geschichte verdichten muss. 638 Seiten, runtergebrochen auf drei. Dreimal 212,66 Seiten müssen zu je einer Seite werden, theoretisch. Das hat er mehr als einmal ausgerechnet.

Zum Jahresende 2016 hat er all seine Jobs aufgegeben: den im Bioladen, den am Nachtschalter der Tankstelle, den als privater Nachhilfelehrer. Seitdem ist Matthias fürs Geldverdienen zuständig. Matthias hat noch nie einen Job gehabt; Matthias hat einen Beruf. Nach der Realschule Zivildienst, dann die Ausbildung zum Altenpfleger, seitdem die 39-Stunden-Woche im Pflegeheim. Matthias hat ihn damals, im Herbst 2016, in seiner Entscheidung, sich eine Zeit lang nur dem Schreiben zu widmen, bestärkt: »Müssen wir halt mal ein bisschen mehr aufs Geld achten, ist doch kein Problem«, hat er gesagt. Und: »Du musst das machen!« Und das hat er dann auch: gemacht. Geschrieben wie ein Irrer, all die Charaktere und Handlungsstränge und witzigen Dialoge, all die Ideen, die seit Jahren in seinem Kopf herumgewabert sind, während er einem seiner Jobs nachgegangen ist. Im Mai 2018, nach 17 Monaten des Schreibens und Umschreibens und Recherchierens und Löschens und Neuformulierens, ist sein Werk in groben Zügen fertig geworden. Er mietete sich für zwei Monate eine kleine Ferienwohnung an der polnischen Ostseeküste und verpasste dem Text den letzten Schliff.

Seitdem liegt er in der obersten Schreibtischschublade, als eng bedruckter Papierstapel und gespeichert auf zwei Festplatten: sein Roman. »Fertig«, hat er zu Matthias gesagt, als er mit Augenringen und einem müden Lächeln im Gesicht aus Polen zurückgekommen ist. »Jetzt nur noch einen Verlag finden.« Daran sitzt er nun also. Wobei er die Verlage, die für ihn infrage kommen, eh an einer Hand abzählen kann: Kiepenheuer & Witsch oder Rowohlt, eventuell auch Fischer. Oder Luchterhand, wo immerhin dieser Stanišić veröffentlicht. Alles andere passt nicht, weder zu ihm noch zu seinem Werk. »Musst du da nicht viel … offener sein?«, hat Matthias ihn vor ein paar Tagen vorm Schlafengehen zögerlich gefragt. Nein, muss er nicht. Er kennt die Verlagsprogramme in- und auswendig, die Schwerpunkte und Profile. Und er weiß, dass sein Roman ein perfektes Debüt ist, das einen perfekten Rahmen verdient hat.

Natürlich ist er nicht blöd. Er kennt die Aussagen der Cheflektor*innen: In 30 Jahren habe lediglich zwei Mal ein unaufgefordert eingereichtes Manuskript zu einer Veröffentlichung geführt, blabla. Unaufgefordert eingereichtes Manuskript. Er hasst dieses Worttrio, es klingt minderwertig, schmuddelig. Aber dennoch wird er genau das machen; er wird unaufgefordert sein Manuskript einreichen. Entscheidend sei, so hat es ihm ein redseliger Verlagsmitarbeiter auf der Leipziger Buchmesse erklärt, das Exposé. Dieses müsse auf maximal drei Seiten den Roman zusammenfassen und als absolute Perle verkaufen. Das hat er wirklich gesagt: »absolute Perle«. Und dass es zwar Verlage gebe, die von zehn oder zwanzig Seiten sprächen, aber, »ganz ehrlich, wenn du auf drei Seiten nicht überzeugen kannst, kannst du es auch nicht auf zwanzig«. Das leuchtet ihm ein. Und so sitzt er nun da, Tag für Tag für Tag, seit 14 Monaten, und versucht, dreimal 212,66 Seiten zu je einer Seite werden zu lassen. In 19 Monaten hat er einen grandiosen 638-Seiten-Roman, eine absolute Perle, aufs Papier gebracht, aber 14 Monate reichen nicht, um daraus einen Drei-Seiten-Text zu machen. Es kotzt ihn an.

Jetzt also, endlich, der Schlüssel im Schloss. Das »Hallo!«, die Dusche, Schritte durchs Zimmer, die sanfte Berührung an der Schulter. Eine halbe Stunde, in der Matthias zu Hause angekommen ist, in der er selbst reglos vor dem Bildschirm gesessen hat. Hat er überhaupt geatmet? »Ich mach uns mal was Schönes zum Abendessen«, sagt Matthias, tropfend und rein, und verschwindet in Richtung Küche.

»Warte, ich helfe dir!«, ruft er ihm nach. Denkt: Worum geht es? Worum geht es eigentlich? Er klappt sein Notebook zu und erhebt sich.


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Juliane Dobelmann (*1981)

lebt und arbeitet in Heidelberg. Von Haus aus Journalistin, ist sie seit einigen Jahren vor allen Dingen als Lektorin und Korrektorin tätig.

www.julianedobelmann.de



Juliane Dobelmann (*1981)

lebt und arbeitet in Heidelberg. Von Haus aus Journalistin, ist sie seit einigen Jahren vor allen Dingen als Lektorin und Korrektorin tätig.

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