COPE
Faber
von Manuel Weißhaar

Er spricht mich an, als ich vor einem Plakat stehe, das ein Gefängnis zeigt in Form eines Smartphones. Schnell verwickelt er mich in ein Gespräch; er ist ein Mann, der reden möchte und reden muss: ein Unverstandener, der sich Verständnis erhofft. Er behauptet, Diplomphysiker zu sein und ehemaliger Journalist, habe lange für konkret geschrieben, die taz und die ZEIT, später sei er bei Springer gelandet, ausgerechnet. Er schmunzelt, als handle es sich um einen Scherz, dessen wahre Pointe er erst nach Jahrzehnten langsam zu begreifen beginnt. Sein Name sei Faber. Wenn man etwas gebe auf derartige Zuschreibungen, sagt Faber, könne man ihn als Alt-68er bezeichnen. Er skizziert eine linke Biografie im Nachkriegsdeutschland: Der Großvater kämpfte noch gegen Franco, er starb an Neujahr 1938 während der Schlacht um Teruel. Er selbst flüchtete als junger Mann im Kofferraum eines Wagens aus der DDR. Er sei dem eigenen Selbstverständnis nach immer stramm antikapitalistisch und antifaschistisch gewesen, ein Freidenker sowieso. Als Journalist hätte er jahrzehntelang gekämpft in einem unerklärten wie unsichtbaren Krieg. Einem Krieg wogegen? Gegen gut abgesicherte, europaweite Netzwerke in Politik, Wirtschaft, staatlichen und kulturellen Institutionen. Faber redet von V-Männern, Mitwissern, rechtsesoterischen Zirkeln, Unternehmerverbänden, halbstaatlichen Instituten. Von Managern, Regierungsbeamten, Industriellen, Bankiers, Akademikern, deren Ziel damals wie heute ein reaktionäres Rollback sei; die Abwicklung, nein: die Auslöschung von 68. Dabei sei er auch mit Dingen konfrontiert worden, die sein Vertrauen in die vermeintlich Guten mitunter nachhaltig erschüttert hätten: ein renommierter Politiker und Aktivist, bei dem man Kindersexspielzeug gefunden habe. Ein angesehener Verlagschef, über dessen exklusive Partys auf einem Gut im Berliner Umland mit Bedacht geschwiegen werde. Ein ehemaliger Bundesminister, der sich darin gefalle, in Talkshows zu moralisieren, und sich gerne minderjährige Prostituierte zuführen lasse, keine von ihnen älter als vierzehn Jahre. Man habe es mit einem riesigen Gespinst zu tun, das seit über einem halben Jahrhundert existiere, gesponnen aus feinen, schwarzen Fäden. Er sagt: Einen der Killer von Brabant habe er noch persönlich kennengelernt.

Inzwischen im Ruhestand, schreibe er auf Blogs und in Foren, sei aktiv auf Twitter, lebe im Twitterbeinturm, wie er sagt. Enttäuscht von der Pseudopolitik und den Pseudodiskursen der sogenannten Linken, der er Denkverweigerung, Dialogunfähigkeit und geistige Verengung vorwirft, beklagt er das Versiegen einer funktionierenden Debattenkultur. Er sagt es mit lauerndem Blick, vielleicht weil ich, seit ich in Berlin lebe, zumindest äußerlich einer Karikatur jener Menschen ähnle, die er offenbar zu verachten gelernt hat. Er beobachte, sagt er, seit geraumer Zeit so etwas wie eine moralische Onanie innerhalb dieser linken Kreise. Man stelle bis hin zur Verwendung einer technokratischen Kunstsprache die Überlegenheit der eigenen Haltung zur Schau, urteile selbstgefällig aus einer durch Überreflexion geschickt verdrängten Position bürgerlicher Privilegiertheit heraus, während man das System, gegen das man selbstverständlich sei, aus bloßer Ratlosigkeit affirmiere. Immerzu ergehe man sich in denselben hohlen Betroffenheitsritualen, erregten Anklagen und hilflosen Absichtserklärungen, die kaum mehr dienten als einer so eitlen wie dümmlichen Selbstvergewisserung. Einmal mehr stelle sich ihm deshalb die Frage, ob eine solche Ansammlung kleingeistiger Philister noch Vorstellungen eines besseren menschlichen Zusammenlebens entwickeln könne, die aus sich selbst heraus Kraft zur Veränderung entfalteten – und nicht lediglich eine fortlaufende Anpassung an künftige überwachungskapitalistische Kontrollgesellschaften bewirkten.

Mittlerweile, sagt Faber, mäandere er zwischen totaler Desillusion und einer aufkeimenden, ihm selbst unheimlichen Sympathie für die sogenannte neue Rechte, die er für ihre subversive Energie bewundere und ihre Ehrlichkeit. Nach all den Jahren beginne er, wenn auch unwillig, eines zu verstehen: Menschen verabscheuten im Grunde ihrer Herzen die Kritik, und vielleicht auch die Freiheit. Sie gierten vielmehr nach Identität und Zugehörigkeit, nach großen Erzählungen und Mythen. Ihr Ziel sei niemals Emanzipation gewesen, sondern Behaustheit, also: Schutz zu finden und Selbstbestätigung in der Vertrautheit einer Gemeinschaft. Die große Fortschrittserzählung der Moderne trage dem auf ihre Weise Rechnung: Sie weise ja nur scheinbar nach vorne ins Offene. In Wahrheit strebe sie langsam, aber sicher zurück. Im vollendeten Verschmelzen mit der Technik würde der Mensch als Mensch zum glücklichen Verschwinden gebracht: Rundum fremdversorgt, behütet vor den Zumutungen des Daseins, lebe er dann entmündigt und geborgen in einem global vernetzten Schutzraum frei von Verantwortung und Angst. In der moralischen Legitimation solch technoider Mutterleibsfantasien sehe er im Übrigen (in einer allzu merkwürdigen Volte der Geschichte) das Schicksal der politischen wie kulturellen Linken durch deren kommende Generationen erfüllt. Das wahre kritische Bewusstsein, sagt Faber, müsse sich diese Entwicklungen immerzu klar vor Augen führen. Wegen solcher und anderer Ansichten werde er inzwischen von alten Freunden und Weggefährten gemieden; er stelle das auch innerhalb seiner eigenen Familie fest, diese Entfremdung. Er gelte ihnen jetzt als alter, weißer Mann. Er habe gelernt, stolz zu sein auf diese Zuschreibung, er trage sie wie einen Orden. Seine Reaktion darauf sei übrigens ein umso störrischerer Humanismus: Er sei einer, der etwas übrig habe für andere Menschen und der daher Ungerechtigkeit ebenso ablehne wie vorschnelle Verurteilungen und falsche Zugeständnisse. Das müsse man verstehen, wenn man ihn verstehen möchte: Allein, das wolle inzwischen niemand mehr, schon gar nicht in Berlin.

Wir gehen ein Stück am Kanalufer entlang. Faber wirkt nachdenklich: als wäre er vorschnell zu einem Ende gekommen und müsste nun rasch entscheiden, was noch hinzuzufügen ist, um mich als Zuhörer nicht zu verlieren.

Ihn beeindrucke, sagt er unvermittelt, die intellektuelle Stichhaltigkeit bestimmter IS-Propagandawerke. Jeder Mensch, der zu denken imstande sei, müsse diese anerkennen. Außerdem fasziniere ihn die technische wie ästhetische Perfektion von deren Hinrichtungsvideos, also: der weiße Sand, der kernblaue Himmel, der sich darüber spannt. Ein jordanischer Pilot in orangefarbenem Overall, der genau in der Bildmitte aufgeht in einer Feuersäule. Wie ein Gemälde von Dalí. Er erwähnt Terrorpläne in Dokumenten des IS, die ihm zugeschickt worden seien: Anleitungen, wie man einen ICE aus dem Gleis springen lasse, die Verunreinigung des Trinkwassers, die Freisetzung von Nervengas in U-Bahnen, Sarin, wie damals, in Tokio. Den Umgang der deutschen Medienlandschaft mit dem Islam (den er für seine Klarheit und Konsequenz bewundere) hält er für kindisch, naiv bis zum Rande der Realitätsverweigerung. Er selbst, der seit vielen Jahren hier in Neukölln lebe und zu vielen Einwandererfamilien freundschaftliche Kontakte pflege, beobachte längst Abschottungstendenzen der jüngeren Generationen von Migrantenkindern. Manche kämen noch immer zu ihm: Als Altlinker genieße er das Vertrauen der Kiezbanden, sie seien ihm zugeneigt wie Hundewelpen. Alle sehnten sie sich nach Orientierung, nach etwas, das ihrer eigenen, problematisch gewordenen Männlichkeit Halt gebe. Noch immer gäbe es ja nichts Gefährlicheres als verunsicherte junge Männer: Auch deshalb habe er inzwischen begriffen, dass ein funktionierendes Zusammenleben ohne stabiles, unverrückbares Wertefundament nicht möglich sei. Lange hätte er dafür gebraucht. Aber auch einem Linken, lächelt er, müsse Entwicklung und Erkenntnis zugestanden werden.

Faber wirkt jetzt heiter, gelöst, fast fröhlich. Er habe gelernt, Cello zu spielen, sagt er; nun schreibe er eigene Stücke nicht für oder gegen, sondern zu Terroranschlägen. Ein Soundtrack für die erschütterte, zerfallende Welt. Er möge die Melancholie, die das Instrument zu erzeugen imstande sei. Ob ich wisse, dass im IS wunderbare Musik zirkuliere?

Bevor ich mich verabschiede, spricht er von seinem Lebensgefährten, den er seit vierzig Jahren liebe. Er habe ihn in einem illegalen Schwulenklub in Kreuzberg kennengelernt, in dem sich nun ein exklusives Fitnessstudio befände.

Ich nenne ihn My Jamaican Guy. Wie im Song von Grace Jones.

Der Lebensgefährte werde noch immer regelmäßig Opfer rassistischer oder homophober Beleidigungen. Auch deshalb führe er, wenn sie gemeinsam Hand in Hand durch die Straßen Neuköllns spazieren würden, immer eine Gaspistole mit sich.

Noch ein, zwei Jahre, sagt er unvermittelt. Er denke an ein Schweizer Hospiz, und falls man es sich nicht leisten könne: Dann bestelle er eben ein Barbiturat aus dem Darknet. Wir werden zusammen gehen, er und ich, sagt er, wie Königskinder.

In einiger Entfernung von uns spielt ein bärtiger Mittzwanziger softe Neofolksongs auf einer Ukulele. Spatzen nehmen Staubbäder in der Sonne. Faber deutet auf die Bäume am Kanalufer, er sagt: Wir werden beobachtet von tausend Kameras.

Im Kanal treibt eine Pizza vorüber, hell und blass, wie der Mond. Faber lächelt wissend bei dem Anblick: als sei auch er ein weiterer winziger Teil von etwas unendlich viel Größerem, das er, der Freidenker, unermüdlich zu durchschauen bestrebt ist.



von: COPE
an: Manuel Weißhaar
Betreff: Faber

Manuel, he!

Erst einmal erneuten Dank für den Text. Da unser Wunsch ja war, Texte zu präsentieren, die sich einem Gegenstand affektiv nähern, würden wir gerne wissen: Steckt da eine Angst vor dem in deiner ursprünglichen Mail erwähnten »Zerfallen gemeinsamer Realitätswahrnehmung« drin? Ist er neutrale Beobachtung? Der Text selbst ist präzise beobachtet und klug, er wirkt darin aber auch sehr souverän. Empfindest du diese Souveränität selbst? Was an dieser Begegnung, die dein Ausgangspunkt war, hat diesen Text provoziert?

Mit stellvertretenden herzlichen Grüßen – Lasse


von: Manuel Weißhaar
an: COPE
Betreff: RE: Faber

Anhang: Faber (Addendum) 2020.pdf

Hey Lasse,

ich habe ein bisschen was zusammengeschrieben und als Text in den Anhang gestellt. In welcher Weise man es verwenden kann, ob wir Teile davon zu einer weiteren Korrespondenz ausarbeiten (oder etwas ganz anderem), würde ich fürs Erste euch überlassen.

Liebe Grüße,Manuel

Faber (Addendum)

Einige Monate nach meiner Begegnung mit Faber bekam ich zum Geburtstag zusammen mit Seifenblasen der Marke Bubble World eine Dose voll transparenter Knete geschickt. Sie trug den Namen Wonder Putty. Formte man sie zu einer Kugel, wurde sie trübe wie ein blinder Spiegel. Ich legte sie über Nacht auf ein kariertes Blatt Papier, um zu sehen, was passieren würde. Am nächsten Morgen war sie bereits zerflossen und ähnelte einer Ohrenqualle; tags darauf, als sie feine, glitzernde Fäden ausgebildet hatte, die sich immer weiter vorantasteten, glich sie dem Schleimpilz Physarum polycephalum, einer der ältesten Lebensformen überhaupt.

Seltsamerweise fühlte ich mich bei diesem Anblick erneut an Faber erinnert. Gesetzt, dachte ich, wir würden aktuelle Diskurse und Debatten sowie die zugehörigen Haltungen und Positionen auf ein Blatt Papier eintragen: als sorgfältig voneinander abgetrennte Kästchen, um rasch die erwünschte Übersicht und Klarheit zu erlangen (und uns damit die damit verbundenen Wertungen und Urteile zu ermöglichen) – Faber, so schien es mir, würde sich dazu vielleicht ein wenig verhalten wie die Knete Wonder Putty: Er würde in keinem der Kästchen ihren Platz finden, sich stattdessen in alle Richtungen ausbreiten (in manche aber auch nicht), er würde Fäden entwickeln und Knoten, sich verwickeln und verzopfen, Verklumpungen bilden und bizarre Wucherungen. Er würde mit dem Papier verkleben und nicht mehr davon abzulösen sein. Ich hatte plötzlich den überwältigenden Eindruck, dass dieses Bild – oder besser: dieser Prozess – etwas erzählte über die Gegenwart (und vielleicht auch die Zukunft). Ich beschloss also, einen Text zu schreiben, der mit Faber und kristalliner, fast unsichtbarer Knete zu tun hatte.

Ausgangspunkt meiner Texte ist immer die Beunruhigung, nie die Gewissheit. Wenn ich mir einer Sache (oder Erkenntnis oder Einsicht) sicher bin, müsste ich gar nicht erst darüber zu schreiben anfangen. Ich würde mich langweilen dabei. Stattdessen folge ich meist einer losen Idee (oder einer vagen Ahnung), fange an und schaue, wohin das führt. Im Fall von »Faber«: zunächst zu der banalen Einsicht, dass die Schilderung der Begegnung mit Faber bereits die gesamte angedachte Textlänge eingenommen hatte. Sie zu kürzen, das stellte ich rasch fest, hieße allerdings, ihr nicht mehr gerecht zu werden, und damit: sie für diesen Text zu verwerfen und von vorne anzufangen. Ich ließ den Text also fürs Erste liegen. Nach ein paar Tagen las ich mir das Ganze erneut durch, dann noch einmal, und kam zu dem Schluss, dass die nüchterne Schilderung der Begegnung selbst bereits der fertige Text ist. Unkommentiert. Ohne eine weitere, vermittelnde Instanz, also: meine Stimme, die einordnet (und fühlt und reflektiert) und damit jemandem, der den Text liest, bereits eine Richtung vorgeben könnte, wie mit dem Inhalt (also mit Faber) umzugehen sein könnte. Ich dachte, ich lasse alle mit Faber allein, und den Fragen, die der Text vielleicht (oder auch nicht) aufwirft. Es schien mir interessant.

Eine Fortsetzung davon würde im Übrigen wie folgt beginnen:

Ich erinnere mich daran, dass ich am Abend des Treffens mit Faber zusammen mit einigen Leuten auf dem Balkon unserer Wohnung in Kreuzberg saß. Wir hatten veganes Curry gekocht und tranken nun gut gekühlten Sekt aus Marmeladengläsern. Über uns funkelte die vor wenigen Tagen erst angebrachte Discokugel verhalten in der zuckerwattefarbenen Dämmerung. Wir führten wie so oft politische Diskussionen, was meist bedeutete zu bewerten (oder zu verurteilen), wer sich in welcher Weise über welches Thema geäußert hatte, und verknüpften es souverän mit dem, was wir im Großen und Ganzen in der Universität (und von ZEIT Online und der Jungen Welt) gelernt (und seither gleichermaßen verfeinert wie trivialisiert) hatten. Ich lernte einige neue Wörter kennen, ansonsten verlief die inhaltliche Auseinandersetzung widerspruchsfrei in vorhersehbaren Bahnen und beinhaltete die üblichen Antagonismen. Zugegebenermaßen hatte ich sie noch am selben Abend weitgehend vergessen (auch im Wissen darum, dass die Diskussion sich in ähnlicher Weise bald wiederholen würde).

von: COPE
an: Manuel Weißhaar
Betreff: RE: RE: Faber

… Manuel!

Danke für die fortführenden Gedanken.

Mir fällt Terézia Mora ein, die in einem Interview mal sinngemäß gesagt hat, die Sprache könne mehr als sie selbst. Ihre Wurzeln liegen in Ungarn, sie beherrscht die Sprache, verfasst ihre Texte aber ausschließlich (!), wie sie mal erzählt hat, auf Deutsch. Ihr Buch Alle Tage arbeitet viel mit ruckartigen Perspektivwechseln, ist sprunghaft und schnell, und laut Mora hatte das, wenn ich mich richtig erinnere, viel damit zu tun, dass sich das Ungarische als Sprache anders denkt als das Deutsche. Es gibt da also einen katalysatorischen Faktor, der dem Schreiben inhärent ist; der nicht planbar ist, sondern höchstens, wenn erkannt, instrumentalisierbar. Es gibt da etwas, das sich ergibt. Ich kenne das von mir auch. Dass Dinge sich ergeben, die sich am Ende gut und vielleicht sogar klug anfühlen, und dann wird mir bewusst, dass das, was ich klug finde, nichts ist, dem eine Erkenntnis zugrunde lag. Sondern mehr oder minder Zufall. Ich empfinde also durchaus sehr, was Mora wohl gemeint hat: dass meine Texte klüger sind als ich. Oder eben mindestens: dass sie in der Lage sind, Klugheit auszudrücken, die ich ohne sie nicht hätte ausdrücken können. Es klingt, als wäre das auch deine Erfahrung, und als wüsstest du bereits, wenn du zu schreiben beginnst, dass Dinge sich im Schreiben erst ergeben. Ist das so? Und vor allem: Fällt dir Ergebnisoffenheit leicht oder sorgst du dich zuweilen, ein Text könnte erkenntnislos bleiben?


Und zweitens: Kannst du dein generelles Verhältnis zur Autorität der/des Schreibenden schildern? Wie verfährt eins mit dem Wissen, auch ohne einen Entwicklungs- oder »pädagogischen« Stoff entwickeln zu wollen, aller Voraussicht nach alles persönlich einzufärben, eigene als richtig angenommene Prämissen zugrunde zu legen?

Liebe Grüße – L


von: Manuel Weißhaar
an: COPE
Betreff: RE: RE: RE: Faber

Hey Lasse,

ob es möglich ist, dass meine Texte klüger sind als ich? Sicher. Ich schätze, alle bedeutenden Werke sind klüger als diejenigen, die sie erschaffen haben. Und: »… dass sie in der Lage sind, »Klugheit« auszudrücken, die ich ohne sie nicht hätte ausdrücken können«. Das wiederum, vermute ich, ist der Grund (oder zumindest einer davon), warum wir schreiben. Wobei ich persönlich 'Klugheit' als zu eng gefasst empfinde, sie vielleicht ergänzt (oder: aufgebrochen) werden müsste. Ich würde vager formulieren: Bestenfalls sind meine Texte in der Lage, etwas auszudrücken, das ich ohne sie nicht hätte ausdrücken können. So wie die meisten Träume (die rasend schnell zerfallenden Abdrücke, die sie kurz nach dem Aufwachen hinterlassen) nur dann wirklich werden, wenn wir sie aufschreiben (oder sie uns zumindest noch einmal selbst erzählen).

In Bezug auf deine Frage zur Ergebnisoffenheit behelfe ich mir mit einer wenig originellen, aber umso nützlicheren Metapher: dem Schreiben als Wanderung, oder sagen wir: Landschaftsbegehung, die mir auch deshalb gerade recht nahe ist, weil ich an einer Art Wanderführer schreibe. Ich begehe also eine Landschaft, die mir nicht zwangsläufig unvertraut sein muss (wobei ich meist schnell feststelle, dass ich sie eigentlich kaum [oder überhaupt nicht] kenne); da ist ein Ziel in der Ferne, ein Berg vielleicht, ein Turm auf der Spitze eines Berges, eine Stadt im Innern des Berges. Da möchte ich hin. Ich spüre das. Ich habe keine Karte, aber eine gewisse Vorstellung von der Geografie. Es ist jederzeit absolut möglich (vielleicht sogar wahrscheinlich), dass ich mich verirre: bereits in den sanften Hügeln, später den Nadelwäldern, sogar noch an den Hängen des Berges und in seinen tückischen, gleißenden Schneefeldern. Vielleicht ist da auch eine Ferienpension mit verblasstem Langnese-Schild am Rande des Weges, in der ich mir ein Zimmer nehme, obwohl ich es besser nicht getan hätte, wie der Protagonist in Hotel California. Mitunter kann sich sogar der ganze Berg als Luftspiegelung entpuppen (oder als virtuelle Illusion aus Bits und Bytes). Natürlich: Manchmal sind solche Irrgänge aufschlussreicher (und sowieso aufregender) als die ursprünglich angedachte Wanderung auf dem Panoramaweg (mit seinen offensichtlichen Fotomotiven). Manchmal (und nicht eben selten) führen sie aber auch: nirgendwohin, in den schrecklichen, schwarzen Morast. Und da steckt man dann fest, und leidet fürchterlich. Zu romantisieren gibt es daran nichts. Sagen wir: Bob Ross lügt jedenfalls schamlos, wenn er behauptet: There are no mistakes, just happy little accidents.

Ein solcher – sagen wir: »ergebnisoffener« – Ansatz ist eigentlich immer eine Zumutung. Aber ich denke: Wenn man das Schreiben nicht mehr als Zumutung empfindet, sollte man misstrauisch werden.

Natürlich beziehe ich mich bei alledem auf »Literatur«, nicht auf den »Diskurs« (allen, die Erstere nur noch für eine Stimulation des Zweiteren halten, sollte man keine Aufmerksamkeit schenken, sie machen sich lächerlich): Für einen Meinungstext, einen »Debattenbeitrag« etc. ist diese Vorgehensweise entsprechend weniger (mitunter auch überhaupt nicht) geeignet.
Was deine zweite Frage angeht: Dass sich die eigenen Texte persönlich einfärben, ist unumgänglich (wobei hier Textform/Inhalt/Erzählposition, etc. sehr wohl Unterschiede und Nuancierungen mit sich bringen). Es vermeiden zu wollen, wäre weder sinnvoll noch erstrebenswert. Das resultiert aber nicht zwangsläufig in pädagogischer (oder didaktischer) Literatur, also im sorgsamen Aufbereiten und Vermitteln der eigenen »Einsichten« und »Erkenntnisse«. Lass es mich so formulieren: Es läge mir fern, mit dem Gestus eines (z. B.) Moralisten (oder Amoralisten) zu schreiben, aber es ist sicher möglich, dass mich jemand nach Lektüre meiner Texte als Moralisten (oder Amoralisten) bezeichnet. Ich nähme es mit Interesse zur Kenntnis. Worum es geht: die Uneindeutigkeit, die Unschärfe, das Verklumpte, Verwischte und Verworrene zuzulassen, auch auf die Gefahr hin, missverstanden zu werden.

Ich denke: Wohlmeinende Pädagog*innen und Aktivist*innen schreiben Schulbücher, Pamphlete und Politkitsch, aber selten brauchbare Literatur. Literatur ist kein Klassenzimmer und keine politische Kundgebung (obwohl sie beides auch sein kann). Für mich ist sie (noch immer) etwas Unheimliches, Unverständliches: Ein Kaninchenbau, der unentwegt weitere Kaninchenbaue erzeugt.

Liebe Grüße, Manuel


von: COPE
an: Manuel Weißhaar
Betreff: RE: RE: RE: RE: Faber

… Manuel!

Eine Sache möchte ich aufgreifen, da sie mich provoziert hat. Versteh mich nicht falsch: Danke dafür! Provokation im besten Sinne. Wenn du schreibst, dass Aktivisten »Politkitsch, aber selten brauchbare Literatur« produzieren, muss ich sofort an Enis Maci denken, die kürzlich den Essayband Eiscafé Europa veröffentlicht hat. Maci schreibt in einem Essay sowohl »Die Ideologie des reinen Erzählers ist ein Missverständnis« als auch »Ich fordere: Sanktionen für all jene, die das Erzählen zum Dogma erheben und es so verraten«. Ich glaube nicht, dass ich das letztgültig durchdrungen habe, merke aber, dass es in mir viel Resonanz für die Haltung gibt, die da zum Ausdruck kommt.

Für mich schließen sich zwei Fragen an dich an:

1 – Wie stehst du (wenn du das überhaupt, ohne den (Kon-)Text zu kennen, beantworten möchtest – wobei ich eine Bezugnahme darauf gerade aufgrund der Ausschnitthaftigkeit nicht unspannend finde) zu dem, was Maci schreibt?

2 – Weil mich die Frage selbst so sehr begleitet: Ist die Frage, was Literatur eigentlich ist und sein kann, eine, die für dich als lesender, analysierender Mensch von Bedeutung ist? Oder berührt sich dich im Grunde nur da, wo es um dein eigenes Schreiben geht?

Herzlichst – L


von: Manuel Weißhaar
an: COPE
Betreff: RE: RE: RE: RE: RE: Faber

Lasse, mein Lieber.

Recht hast du damit, dass die Sache mit dem Politkitsch eine Provokation ist: und natürlich nicht so ganz ernst gemeint. Eher: eine Reaktion auf meinen gelegentlichen Eindruck, dass man sich recht schnell allzu politisch fühlt in diesen Tagen und (ich deutete es bereits an) Literatur oft nur noch als Stichwortgeberin für überhitztes virtuelles Diskurs-Autoscooter nutzt – zur Erregung oder zur Bestätigung, like und dislike, wenn Ihnen X gefallen hat, wird Ihnen auch Y gefallen (und die Verneinung davon), etc. Selbstverständlich gibt es kluge Texte, die gleichermaßen literarisch sind wie politisch prägnant und pointiert. Von Enis Maci kannte ich bislang nur den Namen (befinde aber, dass, wer einen Essayband Eiscafé Europa nennt, sich schon als lesenswert empfiehlt), bin mir, was das Zitat angeht, allerdings unschlüssig, beziehungsweise müsste tatsächlich nachlesen, in welchen Kontext es eingebettet ist. Zwei Paradoxien, die mir dazu lose einfallen: Obwohl man dem Erzählen (der Fiction) immer weniger zu trauen scheint, nutzt man es ohne Unterlass, um das vermeintlich Authentische (Non-Fiction) aufzubereiten: Die gefeiertsten Dokumentationen (z. B. Wild Wild Country oder Tiger King) nutzen dieselben erzählerischen Mittel, dieselben Spannungsbögen, denselben Baukasten wie die Literatur oder das Kino. Ebenso: State-of-the-Art-Reportagen (diese Pulitzerpreis-Dinger), unzählige Sachbücher, etc. Ich habe durchaus den Eindruck, dass das Erzählen totalitär wird, aber nur deshalb, weil es von sich behauptet, authentisch zu sein.

Obwohl die Person des Autors bereits vor Jahrzehnten für tot und begraben (und der Text für total) erklärt wurde, erscheint er (der olle Autor) plötzlich lebendiger denn je: Dieselben Leute, deren geistige Sozialisierung auf jenen beruht, die erstere These abgegeben haben, behaupten nun, dass die Person des Autors sehr wohl entscheidet, ob ein Text mitunter überhaupt erst Erkenntniswert besitzen kann. Ausgerechnet die Dekonstruktivist*innen fetischisieren plötzlich die Authentizität: als wären sie eine der Treppen von M.C. Escher hinaufgestiegen und dabei unversehens essenzialistisch geworden (als jemand, der am literaturwissenschaftlichen Institut stets den Eindruck hatte, er sei in die Fänge einer poststrukturalistischen Sekte geraten, kann ich mich darüber nur wundern). Ich finde ja, salopp formuliert: Man sollte immer davon ausgehen, dass man vom Autor belogen wird. Das ist nicht weiter schlimm: Man muss nur damit umzugehen wissen.

Kurzum, ich denke: Es ist ein Trugschluss, zu glauben, das vermeintlich Authentische lasse einen die Wirklichkeit besser verstehen als die Fiktion. Ebenso: dass die Theorie zwangsläufig der zuverlässigste Schlüssel zu (einiger) Erkenntnis ist.

Es gibt da aber, wie ich finde, einige interessante Perspektiven. Virtuelle Geflechte etwa, holobiontisches Gewirre. All die digitalen Spuren, Schlaufen, Schichten, all die seltsamen Verwandtschaften und Verschränkungen. Dann: Tunnelsysteme und Wurmlöcher. Pararealitäten, Multiversen und Metaversen. Mit fällt nicht ein, wie man sich dem (und damit: dem 21. Jahrhundert [und den nächsten 100.000 Jahren]) besser annähern könnte als mit den Mitteln der Literatur: Rick & Morty sind jedenfalls nicht genug, das Videospiel Dreams nicht, Karen Barad und Donna Haraway ebenso wenig. Man könnte auch sagen: Es braucht nicht Science-Fiction, sondern Super-Fiction.

Um deine zweite Frage nochmals zu umkreisen: Mir geht es da ganz ähnlich, und nein, sie (die Frage) hat für mich nicht die geringste Bedeutung. Ich deutete es mit der Kaninchenbau-Metaphorik bereits an: Literatur ist dann doch ein Hyperobjekt; ein Ding, dessen Ausmaß unser Fassungsvermögen übersteigt und das keine verlässliche Form hat. Demnach wäre es auch müßig, über die damit immer auch verbundene Frage zu spekulieren, ob es Literatur noch braucht (wenn man sich nicht der larmoyanten Klage darüber hingeben möchte, dass sie kaum mehr gelesen wird): Sie wird benötigt, bis irgendeine Technologie die Totalität menschlichen Empfindens einmal zugänglich macht. Das wiederum bleibt Entrückungs- und Erlösungsfantasie, bis es eines Tages vielleicht tatsächlich der Fall ist.
Dies gesagt, kann man einfach weiterschreiben.

Soweit,
Manuel



*
Manuel Weißhaar

lebt und schreibt in Berlin.



Manuel Weißhaar

lebt und schreibt in Berlin.