COPE
Mein Name ist Türke
von Özlem Özgül Dündar

für Semra Ertan

Ich bin versteckt, oder ich verstecke mich. Eines von beiden. Ich bin versteckt, oder ich verstecke mich, ich kann mich nicht entscheiden. Ich gehe durch die Straßen und schaue mir die Gesichter an, die an mir vorbeiziehen. Müde Gesichter, fröhliche, traurige, entspannte, verträumte. Die Gesichter schauen zurück, sie schauen mich an oder glotzen mich an. Eines von beiden. Ich frage mich, was macht, dass sie in meine Richtung schauen. Ist es die Kleidung, die ich gerade trage, oder mein müdes Gesicht, dass ich eine Frau bin, oder reicht es, dass ich sie anschaue, und sie schauen einfach zurück. So einfach, ich schaue sie an, und sie schauen zurück, ein Reflex. Seit ich denken kann, schwingt es mit, in jedem Blick von jemandem, der mich betrifft, auf mich Bezug nimmt, auf mich reagiert: Was macht, dass die Leute schauen. Auf der Straße, in der Bahn, an einer Warteschlange beobachte ich, wie andere beobachtet werden. Werden sie tatsächlich beglotzt, oder bilde ich es mir ein. Eines von beiden muss es sein.

Ich bin in Leipzig. Es ist Herbst 2015. Ich laufe zur Demo und will Teil einer Menge sein, die zeigt, dass es auch andere Menschen in Deutschland gibt – die nicht Nazis sind. Es gibt mehrere Demos gleichzeitig, und ich habe keine Ahnung, welche die richtige für mich, welche die ist, zu der ich eigentlich will. Wo soll ich mich hinstellen, oder stehe ich schon auf der falschen Demo und demonstriere versehentlich bei den Falschen mit. Eines von beiden. Ich versuche, es am Aussehen der Leute festzumachen. Die Legidas und die Nicht-Legidas sehen alle gleich aus, stelle ich fest und verharre, wo ich bin, ohne zu wissen, in welche Richtung ich gehen soll. Am Ende entscheide ich mich, eine Polizistin zu fragen, welche Demo die Gegendemo ist, und fühle mich ein bisschen blöd dabei. Um zu wissen, wer zu was gehört, müssen die Leute aussprechen, was in ihren Köpfen ist. Ich werde fast nostalgisch und wünsche mir die Zeiten zurück, als man Nazis noch an ihrer Kleidung erkennen konnte, und stelle sofort fest, dass auch ich dem Trugschluss wieder einmal verfallen bin, man könne das äußerlich festmachen. Dabei kenne ich genug Akademiker, die Nazis sind und fast schon wie Hippies aussehen. Ich versuche, mir in Gedanken eine Notiz zu machen, dass ich diesem Trugschluss mit der Kleidung nicht mehr verfalle und auch nicht noch mal Anflüge von Nostalgie habe in solchen Situationen.
Auf der Gegendemo sind mindestens 30.000 Menschen, vielleicht sogar fast 40.000. So viele Menschen so eng beieinander hab ich noch nie gesehen. Es ist wirklich sehr eng. Ich bin mitten in der Demo. Ich stehe gequetscht zwischen Leuten, die ich nicht kenne, und spüre ihren Atem an meinem Nacken, kann von allen Seiten Gesprächen Wort für Wort folgen, bin eine Voyeurin, die ich nicht sein will, aber ich kann weder einen Schritt nach links noch nach rechts machen und bleibe gezwungenermaßen weiterhin Voyeurin. Ich fühle mich auch etwas fehl am Platz, da ich weder ein Nazi noch ein Nicht-Nazi bin, sondern die Sache, um die demonstriert wird. Ich spüre eine gewisse Erleichterung in Gedanken und körperlich bei mir, einfach durch den bloßen Anblick der Menge, eine gewisse Achtung vor den Organisator*innen, so viele Menschen zu mobilisieren, und gleichzeitig ein gewisses Entsetzen, das ich noch nicht greifen kann.
Aus der Menge raus, auf dem Weg nach Hause, kann ich das Entsetzen nun besser greifen, in Worte fassen: Wie krank muss dieses Land sein, dass es so eines Kraftakts bedarf, nur um zu zeigen, dass es auch viele Nicht-Nazis gibt. Mich weiter von der Demo entfernend, denke ich mir, diese ganze Aktion gab es wegen Leuten wie mir. Weil wir hier sind. Weil die einen uns weghaben wollen. Weil die anderen kein Problem mit uns haben.
Nach den Demos fange ich an, bewusster einzukaufen. Wenn ein Produkt aus Sachsen ist, versuche ich, ein anderes zu kaufen. Ich will mir nicht Butter auf mein Brot schmieren, das von Nazihänden berührt wurde. Dann stelle ich fest, wie dämlich das ist, da nicht alle Menschen in einem Betrieb, der aus Sachsen ist, gleich Nazis sein müssen, und lasse das Bewusster-Einkaufen wieder sein.
Ich chatte mit einer Freundin während der Heißphase der Demos, und wir überlegen, was man tun kann. Wir stellen fest: auswandern. Ich überlege, welche Jobmöglichkeiten ich in der Türkei hätte. Ich käme schon irgendwie klar. Als Übersetzerin vielleicht. Fünf Jahre später: Ich bin noch immer hier. Die Freundin auch.

Ich versuche zu schreiben. Man sagt mir, ich soll über Menschen schreiben, die ich kenne. Ich kenne eine Ausländerin sehr gut. Mich. Ich beschließe, über diese Ausländerin zu schreiben. Ich bin kein Mensch vieler Worte. Um den heißen Brei zu reden, war mir schon immer ein Rätsel. Ich kann nicht um Dinge herumreden, so sehr ich mir das manchmal auch wünsche. Was man schreibt, soll motiviert sein, habe ich mir gemerkt. Meine Motivation für diesen Essay: die Ausschüttung von Worten, die sich in mir ansammeln, aufbauen, auftürmen. Kann man eigentlich etwas bewirken mit Worten – whatever, ich schreibe jetzt diesen Essay.

Ich höre von benachteiligten Menschen und fühle mich dreifach bestraft. Türkin, Muslimin, Frau! Meine Wahrnehmung: Keine dieser Gruppen wird positiv assoziiert. Ich lerne mich zu verstecken und mir ein dickeres Fell anzulegen. Ich möchte das, was andere für meine Schwächen halten, zu meinem Vorteil nutzen, aber ich finde nichts, was ich zu meinem Vorteil umdrehen könnte. Mein Fell bekommt Eigenschaften, die ich nicht ausstehen kann bei Leuten, Zynismus ist eine davon.

Ausländer sind nicht integriert, höre ich. Höre es, seit ich denken kann. Seit ich denken kann, fühle ich mich nicht integrationsfähig. Ich merke mir, dass Die sich nicht integrieren lassen, nicht integrieren wollen. Ich merke mir, dass ich zu Die dazugehöre, dass ich nicht in der Lage sei, mich zu integrieren.

Ich höre, die Ausländer seien verantwortlich für viele Dinge. Die Medien berichten jeden Tag darüber, wofür die Ausländer alles verantwortlich seien. Immer wieder werde ich gefragt, was ich über die Burka denke. Mir wird erzählt, dass das Kopftuch ein Symbol der Unterdrückung sei. Okay, liebe Leute, aber was genau hab ich damit zu tun? Ich trage weder Burka noch Kopftuch. Was eine Burka ist, habe ich durch deutsche Medien gelernt. Wenn meine Familie eine Frau mit Burka sieht, kriegen wir kollektiv eine allergische Reaktion. Die Leute erwarten, dass ich dennoch Stellung dazu beziehe, dass ich ein Player in diesem Kopftuch-Burka-Szenario bin.

Ich erinnere mich an eine Begegnung vor der Einschulung. Wir sind auf einem Spielplatz, in der Nähe unserer Wohnung, und ich sitze mit einem Mädchen auf Sand. Mein fünfjähriges Ich denkt sich bereits, sie ist superblond. Meine Mutter redet mit der Mutter des Mädchens, die auch superblond ist. Mein fünfjähriges Ich findet das bizarr und fragt sich, was diese zwei Frauen wohl zu reden haben könnten, welche Gemeinsamkeiten es da geben könnte. Mein fünfjähriges Ich steht vor einem Rätsel. Auch das Mädchen vor mir nehme ich als anders wahr. Wir sind beide Kinder, wir werden beide bald eingeschult, aber darüber hinaus haben wir nichts gemeinsam, findet mein fünfjähriges Ich. Das kleine superblonde Mädchen fragt mich nach meinem Namen, und ich weiß: Das wird jetzt wieder schwierig. Ich sage ihn, und sie kann ihn nicht aussprechen. Fünf Buchstaben eigentlich nur. Noch einfachere Namen gibt es gar nicht so viele. Ihr Name hat sieben Buchstaben, an sich wesentlich komplizierter als meiner, aber whatever. Das superblonde Mädchen ist später in meiner Klasse. Bei einem Streit boxt sie mir in den Bauch mit der Begründung, sie wisse jetzt, warum sie meinen Namen nicht aussprechen konnte. Später schlage und trete ich jeden, den ich kann. Mädchen oder Junge ist mir gleich. Hauptsache, ich werde nicht geschlagen. Das passiert mir nicht noch einmal, nimmt sich mein sechsjähriges Ich vor.

Diese Situation kannte mein fünfjähriges Ich schon: dass die Nennung des Namens eine gewisse Schwierigkeit beim Gegenüber verursacht. Der Name muss immer und immer wieder ausgesprochen werden, damit er halbwegs beim Gegenüber ankommt. An sich kein Problem. Ich bin geduldig. Das kleine Mädchen im Sand wusste es noch nicht, aber später begegne ich vielen, die sehr genau wissen, was Sache ist, sobald ich meinen Namen ausspreche. Ich sage meinen Namen, und sie fragen mich erstaunt: Du bist Türkin? Und warum soll ich das nicht sein. Eine sehr häufige Annahme, die dieser Frage folgt, ist, dass ich dann wohl Halbtürkin sei, dass eins meiner Elternteile deutsch sei. Das muss ich dann jedes Mal korrigieren. Nein, ich bin voll Türkin. Das führt dann zu noch mehr Erstaunen, da ich ja gar nicht so aussehen würde. Ich frage mich, wie sieht eine Türkin schon aus. Es gibt Millionen verschiedene Möglichkeiten. Wahrscheinlich werden diese Türken, die nicht in das Schema Türkenaussehen passen, nicht als Türken wahrgenommen, sondern einfach als das, was sie sind: Menschen. Die nächste Verwunderung nach dieser Feststellung ist immer, wie gut ich deutsch sprechen kann. Darauf erwidere ich immer, dass ich doch in Deutschland geboren bin. Ja, das sei aber dennoch nicht selbstverständlich, dass ich so akzentfrei Deutsch könne, wird mir erklärt. Diese Reaktion ist genau genommen noch die positive, denn manch andere hören nach der Nennung des Namens einfach auf, sich mit mir zu unterhalten. Wenn man über die Gründe des Gesprächsabbruchs nachdenkt, dann wird einem ganz anders zumute. Ob das Gespräch nach der Nennung des Namens nun so oder so verläuft, eines steht fest: Sobald ich meinen Namen sage, spiele ich als Person keine Rolle mehr. Es spielt auch keine Rolle, welchen Namen ich habe. Es spielt keine Rolle, wer ich bin oder was ich mache. Es bleibt nur eine Sache hängen: Türke.


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Özlem Özgül Dündar

schreibt Lyrik, Hörspiel, Theater, Prosa, Essay und macht Kurzfilme. Sie ist aktiv in den Kollektiven ministerium für mitgefühl und kollektiv flexen und Mitherausgeberin der Anthologie flexen - flâneusen* schreiben städte (Verbrecher Verlag 2019).

@oduendar / Özlem Özgül Dündar



Özlem Özgül Dündar

schreibt Lyrik, Hörspiel, Theater, Prosa, Essay und macht Kurzfilme. Sie ist aktiv in den Kollektiven ministerium für mitgefühl und kollektiv flexen und Mitherausgeberin der Anthologie flexen - flâneusen* schreiben städte (Verbrecher Verlag 2019).

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